Rifugio Vittorio Emanuelle II
Es ist heiß. Sehr heiß, selbst für Ende August. Nach fast drei Stunden des mühseligen Aufstiegs durch die Hitze erreichen wir die große, hölzerne Terrasse des Rifugio Vittorio Emanuele II. Schnell werfe ich meinen Rucksack ab und ziehe meine Bergschuhe aus. Auf der Steinmauer sitzend, beobachten Boris und ich das Treiben auf der geschäftigen Terrasse. Die Terrasse ist voll mit Italienern, die sich leicht an ihrer bunten und stilvollen Bergbekleidung erkennen lassen. Und natürlich an dem unaufhörlichen Geplauder auf Italienisch. Es ist auffällig, wie viele Italiener ohne Unterbrechung miteinander sprechen können, dabei gestikulieren und sehr temperamentvoll sind.
Drohendes Gewitter
„Mmm, für morgen Nachmittag ist ein Gewitter mit viel Regen vorhergesagt.“ Über unsere Handys gebeugt, schauen Boris und ich die verschiedenen Wetterapps an. „Wie kann das sein? Als wir gestern Abend geschaut haben, schien die Vorhersage viel stabiler zu sein.“ Schnell konsultiere ich verschiedene Wetter-Apps, aber alle sagen dasselbe voraus: Gewitter mit viel Regen ab dem Nachmittag. „Was, wenn wir ganz früh starten, damit wir bei Tagesanbruch klettern können?“ „Ja, aber dann müssen wir den Zustieg im Dunkeln machen, und wir kennen den Zustieg nicht und dieser wird fast nie gemacht.“
Boris und ich sitzen drinnen an einem der großen Holztische. In der Küche wird bereits das Abendessen für die 120 Gäste der ausgebuchten Hütte vorbereitet. Tabletts voller großer Flaschen „Birra Moretti“ werden den Gästen auf der Terrasse serviert. Die Gäste genießen den klaren blauen Himmel und die strahlende Sommersonne. Es scheint als würde sich niemand um das Wetter von morgen kümmern. Trotzdem ärgert mich die dunkelgraue Wolke mit dem Blitz auf meinem Bildschirm. In Gedanken reflektiere ich die vergangenen Tage, in denen wir den Entscheidungsprozess für diese Tour begonnen haben. Unbewusst beginnt sich ein Lamento in meinem Kopf auszubreiten. Wären wir doch heute Morgen früher aufgestanden. Dann hätten wir gestern Abend noch zur Hütte gehen können, sodass wir heute hätten klettern können. Zum Glück weiß ich, wie ich die negative Gedankenspirale schnell unterdrücken kann. In den zwanzig Jahren, in denen ich klettere, habe ich eines gelernt: Man kann das Wetter nicht kontrollieren. Und man lässt sich seinen Tag nicht von etwas verderben, auf das man keinen Einfluss hat. „Hey Boris, was hältst du von dieser Route?“
Der Zustieg am nächsten Morgen
Unter einem kristallklaren Himmel mit strahlenden Sternen wandern wir entlang des kleinen Sees zum Beginn der Moräne. Das Mondlicht spiegelt sich auf der Wasseroberfläche und zaubert ein funkelndes, silbergraues Schauspiel. Als ich zurückblicke, sehe ich die letzten Stirnlampen einer langen Lichterkette in der Nacht verschwinden. Von den 120 Bergsteigern in der Hütte sind 118 in der Nacht für die Normalroute des Gran Paradiso aufgebrochen. Die anderen beiden Kletterer gehen in die entgegengesetzte Richtung, ins Unbekannte.
Als die Dämmerung hoch am Himmel anbricht, stehen wir am Fuß eines Schutthaldenhangs. Letzte Nacht hatten wir den Hang aus der Ferne inspiziert, aber jetzt, im Halbdunkel und näher, ist es schwierig, die Tiefe zu erkennen, geschweige denn einen Überblick zu bekommen. Besonders in diesem Ödland aus losen Blöcken und Schotter. Bisher sind wir etwa eine Stunde auf einem vagen Pfad über den gut verdichteten Moränenrücken gelaufen. Doch jetzt müssen wir wirklich den Hang hinauf, um zur Schulter zu gelangen, von wo aus die Route beginnt. „Nun, wollen wir hier hochgehen?“ Boris und ich starten gleichzeitig den Hang hinauf. Es gibt nicht einen einzigen Hinweis auf Menschen, die vor uns hier waren. Selbst Ziegenpfade scheinen vollkommen verlassen zu sein. Langsam, aber stetig suchen wir den effizientesten Weg durch das Dickicht. Schotter, Steine und gelegentlich Blöcke wechseln sich ab. Das Tageslicht hat inzwischen unbemerkt die Dunkelheit vertrieben. Dadurch sind die Dimensionen des Geländes klarer geworden. Wir setzen unseren Weg in einem Zickzack fort. Manchmal entscheide ich mich, den Schutthang zu verlassen, um am festen Fels zu klettern. Boris hingegen setzt seinen eigenen Weg fort. Wo sonst ein Wanderweg die Route für dich bestimmt, haben wir hier die Freiheit und Kreativität, unsere eigenen Entscheidungen zu treffen. Das ist es, was mich am Bergsteigen und vor allem beim Klettern mit eigener Absicherung immer fasziniert hat: die reinste Form des Kletterns, aber vor allem die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen.
Die Schulter
Sitzend auf einem großen Felsen ziehe ich meinen Bergschuh aus, um ein kleines Stück Stein zu entfernen. Eine fabelhafte Aussicht breitet sich vor mir aus. Hinter Boris, der die letzten Meter zur Schulter erklimmt, erstreckt sich ein weites Panorama. Links streifen die ersten Sonnenstrahlen über die zerklüfteten Gipfel des südlichen Gran Paradiso-Massivs, mit dem Kletterparadies „Valle Dell’Orco“ irgendwo dahinter. Rechts, noch im blauen Morgenlicht, führt der Zustieg von der Hütte durch das unordentliche, fast chaotische Gelände aus Geröll. Im Hintergrund erhebt sich der imposante Turm der Becca di Moncorvé über alles. Eine vertikale 500 m hohe Wand, die mit einem spitzen Turm endet. Von hier aus deutet nichts darauf hin, dass dieser 3875 m hohe Gipfel nur ein Vorsprung des immens beliebten 4000ers, dem Gran Paradiso, ist. Wie seltsam, dass ich diesen Turm nie zuvor bemerkt habe. Und wie seltsam, dass wir hier ganz allein sind, während nicht weit entfernt über hundert Menschen in einer einzigen Reihe zum Gipfel aufsteigen.
Warum wählen alle massenhaft die bekannten und überfüllten Gebiete? Brauchen wir wirklich "Tripadvisor", um jede Reise zum besten Erlebnis zu machen? Muss ein Klettergebiet detailliert in den visuell beeindruckenden modernen Publikationen von Rockfax beschrieben werden? Wollen wir nicht eine Route klettern, nur weil sie keine Sterne bekommt? Warten wir darauf, dass die Bedingungen namentlich auf Instagram beschrieben werden? Ist die Meinung des anderen Bergsteigers wirklich so viel wert für uns? Ist es die Angst vor dem Unbekannten? Oder haben wir einfach keinen Platz für Rückschläge in unserem eitlen Leben? Unserem eitlen und geschäftigen Leben, in dem Arbeit und Privatleben so viel von uns verlangen. Wo wir kaum ein paar Wochen für die Berge planen können. Die Wochen, die auch durch schlechtes Wetter ruiniert werden können.
Cresta Sud
Auf der Schulter nehmen wir uns Zeit, um den weiteren Verlauf der Route zu bestimmen. Der Plan ist, den relativ einfachen Südgrat der Becca di Moncorvé (3875 m) zu erklimmen. Die Beschreibung in meinem italienischen Kletterführer ist kurz, aber klar: „Arrampicata bella e panoramica - Portare dadi e friend, 2 corde da 50 m.“ Mit 530 m Kletterei und einer Schwierigkeit von max. 5a erschien uns das angesichts des vorhergesagten Gewitters als vernünftige Wahl.
Ein Übersichtsfoto mit einer vagen roten Linie ist die einzige Information, die wir so schnell finden konnten. Jetzt liegt es an uns. Wo sieht der Fels am zuverlässigsten aus? Wo kann ich Sicherungen setzen? Und vor allem, wo denke ich, dass ich hochklettern kann?
Mit den ersten Sonnenstrahlen beginne ich, eine der Verschneidungen zu erklettern. Es fühlt sich gut und vertraut an, endlich festen Fels unter den Füßen zu haben. Nach zwanzig Metern sehe ich auch Boris hinter mir hochklettern. Wir am laufenden Seil, wo wir beide parallel klettern. Weiter oben ragt ein wetter- und windzerfressenes Stück Holz auffällig aus einem Riss. Dieses Stück Holz ist das erste Zeichen menschlicher Aktivität, das wir an diesem Tag antreffen. Es wurde mit Sicherheit vor fast 50 Jahren während der Erstbesteigung dieses Grats von Andrea Oggioni und Josve Aiazzi als Sicherungspunkt benuzt, dem berühmten Kletterduo, das in den Fünfzigern zusammen neue Routen und prestigeträchtige Begehungen quer durch die Alpen erschuf. Auch sie waren damals sicherlich auf einem Abenteuer ganz für sich allein.
Ich klettere schnell über die kantigen Blöcke des Gneis. Die augenförmigen Formen aus Quarz und Feldspat (Mischkristalle) bilden perfekte Tritte und Griffe. Es ist bemerkenswert, wie der ursprüngliche Granit unter hohem Druck und Temperaturen eine Metamorphose durchlaufen hat und sich in diesen sogenannten Augen-Gneis verwandelt hat.
Mitten in der auffälligen Traverse nach links mache ich halt und sichere Boris nach. Daraufhin übernimmt Boris wieder das scharfe Ende des Seils. Boris klettert geschickt durch die großen profilierten Verschneidungen. Ein wenig später klettere ich durch eine steile Passage im fünften Grade zum Gipfelaufbau. Große kantige Formen und steile Züge auf guten Griffen bieten eine spektakuläre und physische Seillänge. Es ist wunderbares Klettern, nicht zu schwierig, solider Fels, gute Sicherungen und schöne Strukturen. Es macht einfach Freude. Das Genießen der Route, der Aussicht und der Atmosphäre, vor allem aber der friedlichen Stille um uns herum.
Auf dem Gipfel
Oben angekommen denke ich an den wunderbaren Klettertag zurück. Der Zustieg, der mit der schwierigen Frage begann, ob wir unser Ziel weiter verfolgen wollen. Doch letztendlich entwickelte sich alles überraschend gut und wir konnten einen wahren Schatz klettern. Ein versteckter Klassiker. Denn wie so oft stellt sich heraus, dass Widrigkeiten ein gutes Rezept für Abenteuer sind. Sei ehrlich zu dir selbst und offen für die Welt um dich herum. Denn diejenigen, die das Abenteuer suchen, können es auch finden. Und oft liegt es näher, als man denkt!
Autor: Niek de Jonge
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