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KLETTERN IN PATAGONIEN - MICHI WOHLLEBEN

Am ersten Tag nach unserer Ankunft wollten wir gleich zum „Piedra del Freile“ aufbrechen, um an der Aguja Guillamet die „Brenner“ Route zu klettern. Daraus wurde allerdings nichts, da unser Gepäck nicht ankam. Selbst eine nächtliche zweistündige Radtour durch El Chalten auf der Suche nach dem kleinen weißen Bus von „Las Lengas“ half nichts. Also schliefen wir am nächsten Morgen unfreiwillig aus. Wir verschoben unsere Idee um 24 Stunden mit dem Wissen, dass wir nun nur einen halben Tag gutes Wetter haben, was aber trotzdem gut funktionierte: Statt von „Piedra del Freile“ starteten wir um 2 Uhr nachts mit dem Taxi nach El Pillar, stiegen in etwa 5 Stunden bis zum Passo Guillamet auf und machten uns ans Klettern.

Schöne Seillängen führten uns zum „bekannten“ Brenner-Riss, der allerdings vereist war. Daher blieb uns nur rechts der breite Offwidth. Wält als erfahrener Indian Creek Kletterer war zwar nicht sonderlich scharf auf den Vorstieg, zierte sich aber nicht und zauberte sich mit einer mir bisher unbekannten Technik nach oben. Der 12 Meter Runout ohne den passenden Camelot machte sich durch einen kurzen, fragenden, sehr zweifelnden Blick nach unten bemerkbar.

Als ich am Offwidth ankam, rief mir Wält zu: „Michi, hast du schon mal Butterflys gemacht?“ Ich dachte etwas sarkastisch an so etwas wie Schmetterlinge im Bauch … hatte ich letztmalig vor 8 Jahren … Nach kurzem Erklären verstand ich, worum es ging. Nämlich aus zwei Handklemmern einen großen Klemmer im Riss zu machen, um sich so irgendwie den Riss hochzuwürgen.

Zügig kletterten wir weiter und erreichten schnell den Gipfel, auf dem sich Patagonien dann endlich von seiner windigeren Seite zeigte. Keine zwei Stunden später standen wir wieder im Passo Guillamet. Der Wind peitschte derart heftig über die Grate, dass wir die sagenumwobenen Knallgeräusche erstmals mit unseren eigenen Ohren hören konnten: Wie wenn ein Düsenjet die Schallmauer durchbricht! Zu meiner Belustigung warf der Wind im Abstieg den kleinen, alten (53) Schweizer Wält, der es übrigens faustdick hinter den Ohren hat, gleich zweimal um. Einige Stunden „jumpeln“ (Schweizerdeutsch: Sinnloses Wandern, Hatschen) wir durch die Patagonischen Berge, ehe wir wieder in El Pillar an der Hauptstrasse ankamen.
16 Stunden auf den Beinen reichte uns: Also Autostopp! Allerdings gab es Konkurrenz: Zwei hübsche Trekkerinnen aus Frankreich standen ebenso an der Straße. Wir hatten Glück. Zwei Minuten später – 1:0 Equipo Suiza – hielt ein Wagen, ab ging’s nach Chalten, wo uns Bife de Chorizo und ein kühles Bier erwarteten. Es folgt ein verdienter Ruhetag, an dem wir mit Luca Schiera von den Ragni di Lecco zum Bouldern gingen. Ich war überrascht von den wirklich tollen Linien in Chalten und erfreute mich an zwei, drei Projekten, die ich mir für kommende Schlechtwettertage aufsparte. Fünf Tage vergingen wie im Flug.

Als sich das nächste, kurze Wetterfenster ankündigte, wollten wir ins Torre Valley. Ziel: Irgendetwas Feines an der St. Exupery, Mocho, Medialuna oder De la S zu klettern. Da wir – ehrlich gestanden – zu faul waren das ganze Camping Equipment bis ins Niponino zu tragen, nächtigten wir gemütlich im Angostini Camp.



Aufstehen um 2 Uhr morgens und Richtung Torre Gletscher jumpeln.
Bald erreichten wir die Moräne. Ohne Info liefen wir den Weg, den wir aus vergangenen Jahren kannten, weiter und standen nach 30 Minuten unten am See, blickten in stockdunkler Nacht auf eine 70° steile Moräne, die im Wasser endete. „Hier geh’ ich nicht durch!“ Alle weiteren Versuche, die Moräne tief zu queren, endeten in steilem Gelände. Es wäre Harakiri gewesen. Also wieder den ganzen Weg retour nach oben und einen Durchschlupf über die Moräne suchen. Es wurde langsam hell als wir endlichen einen Weg durch dieses Labyrinth fanden.

Die Motivation war im Keller als wir nach drei bis vier Stunden endlich die Füße auf den Torre Gletscher setzten. Wält’s Kommentar: „Patagonien wehrt sich mal wieder mit Händen und Füßen.“ Als wir nach sechs Stunden endlich im Niponino ankamen, regnete es. Außerdem war’s richtig windig. Neue Entscheidung: an den Mocho gehen! Aber das Wetter war gegen uns: Sprühregen durchnässte unsere Hosen. Kurzum: es war ekelhaft. Hinsetzen. Nachdenken.

Planänderung: Talseite wechseln. Zwei Stunden später saßen wir im Campo Polacos. Als sich die Sonne zeigte, entschieden wir, Richtung Aguja de la S aufzubrechen. Ohne ordentliche Steigeisen und Pickel wussten wir natürlich nicht, wie weit wir überhaupt kommen würden und nahmen daher auch nur ein 50m Einfachseil mit.

Die lange Traverse unter der Aguja St. Exupery war sehr schön. Wir hatten eine super Sicht auf die Torre Gruppe und mussten erneut feststellen, dass das Wetter am Cerro Torre einfach immer schlechter ist als am Fitz Roy. Wir kletterten zügig in „Die Brecha de los Austriacos“. Diese Aktion erinnerte mich stark an eine Besteigung des Mönch Nollens mit meinem Freund Ueli Steck: in Turnschuhen und Eispickel, ohne Seil, in Laufhosen, ohne Daunenjacke … der Sturm, der uns im Gipfelbereich unerwartet erwischte, hätte auch böse enden können. Ich weiß längst, wie schnell die Situation kippen kann. Aber hier und jetzt sollte keine Situation kippen. Wir hatten super Wetter und kletterten auf die Aguja de la S. Beim Abseilen war das 50m Seil schon unpraktisch. Drei Verhänger in den ersten drei Seillängen sind keine gute Bilanz, aber so ist das wohl manchmal.

Wir kletterten und seilten das Couloir ab und jumpelten zum Niponino zurück, wo wir gegen 17.30 Uhr Freunde trafen, die uns freundlicher Weise ein paar Riegel schenkten. Im Anschluss ging’s etwa 4,5 Stunden zurück zu unserem Zelt. Am Folgemorgen waren die Berge wieder tief in Wolken verhangen und so machten wir uns zurück zu unserem Chalten. Nach Aktionen dieser Art freue ich mich immer auf Ruhetage und will vom Gebirge erstmal nichts wissen.

Nach sechs Tagen Ausschlafen und Bouldern öffnete sich langsam ein Wetterfenster. Wir entschieden uns für die „Supercanaletta“ am Fitz Roy. Mich faszinierte dieser Koloss. Wir schätzten die Verhältnisse im Fels zu schlecht ein, um eine schwierigere Route realistisch versuchen zu können. Erneut aus Faulheit, unser Camping Equipment bis ins Camp am Einstieg zu tragen, entschieden wir uns von Piedra del Freile zu starten und dadurch etwa fünf Stunden mehr an Zustieg in Kauf zu nehmen.

Gegen 1.30 Uhr machten wir uns Richtung Fitz auf. Keine 10 Minuten nachdem wir uns am Gletscher anseilten, öffnete derselbe sein Maul und wollte mich verschlucken! Nach 5 Stunden standen wir dann am Biwakplatz unter der Canaletta. Dort sahen wir zahlreiche Stirnlampen am Ende des Couloirs, also ca. 1000m über uns. Später stellte sich heraus, dass vier Seilschaften gegen 1 Uhr am Einstieg starteten. Zu unserem Glück, konnten wir diese schon nach drei Stunden einholen und auch gut in den Seillängen um den „Bloque Empotrato“ überholen. Sie nahmen es etwas gemütlicher – die Kombination aus Zigarettenrauch und der Menschenmenge erinnerte mich eher an einen Club als eine große Route am Fitz Roy. Die hatten nicht nur Marihuana, sondern auch eine Beatbox dabei!

Bei Wält und mir lief alles wie geschmiert. Wir wechselten uns blockweise ab, jeder führte immer 100-200 Meter am Stück. Das Gelände war nicht besonders schwierig. Dean Potter bezeichnete den oberen Teil der „Super“ mal als Aneinanderreihung von Bouldern. Womit er recht hat: Es ist immer wieder recht flach und dann kommt eine schwierige Passage von 5 bis 30 Meter. Die oberen Passagen waren mit viel „Rime“ überdeckt, was die Wegfindung nicht einfach machte, da man nicht einsehen konnte, wo die Risse waren. Natürlich machte es die Kletterei obendrein ein bisschen würziger. Immerhin hatten wir auf den letzten 8 Seillängen Beatbox Sound von unten. Die letzte Seillänge auf den Grat war, anstatt einer 20m IV+, eine senkrechte „Rime“ Wand.

Gegen 17.30 Uhr erreichten wir den Gipfel und überlegten lange, wo wir abseilen sollten. „Franco-Argentina“ mit weniger Stein und Eisschlag, dafür schneebedeckte Stände? Colin Haley sagte einmal, dass das Bergsteigen in Patagonien eine „master class in rappeling“ ist. Es gibt nahezu keinen Gipfel mit einfachen Abstiegen, geschweige denn mit vielen gebohrten Standplätzen. Man findet sich auf einem Gipfel und muss die ganze Strecke, die man geklettert ist, an Schlaghaken, Blockschlingen, einzelnen Klemmkeilen oder Abalakovs abseilen. Durch das zackige Gelände ist die Gefahr von Seilverhängern recht groß.

Nach Wält’s Bitte, ob ich den Abstieg führen könnte, fand ich mich für sechs Stunden – davon vier nachts – in diesem Modus: ca. 45 Mal abseilen, immer suchend und hoffend den nächsten Standplatz zu erreichen. Dieses Mal lief es besser als an der Aguja de la S. Wir hatten glücklicherweise keinen einzigen Seilverhänger und opferten lediglich zwei Klemmkeile, zwei Bandschlingen und zwei Karabiner. Eine gute Bilanz. Als wir endlich das Eiscouloir erreichten, mussten wir feststellen, dass sich durch die hohen Temperaturen die ganze Route in eine einzige Dusche verwandelt hatte. Jeder Schritt im Schnee war ein Schritt in einem 60 – 70 ° steilen Sumpf aus Matsch und Wasser. Nass wie Waschbären waren wir! Gegen 1.30 Uhr erreichten wir unsere Stöcke und den Gaskocher. Nach einer Mahlzeit ging’s weiter Richtung Piedra del Freile.

Auf dem Rückweg liefen uns zwei Stirnlampenlichter entgegen. Eine Stimme mit amerikanischem Slang rief: „Walter, Michi?“ Colin und Austin, waren auf dem Weg zur Affanasiev. Im Glauben, dass wir umgekehrt waren, versuchte uns Colin zu trösten, bis er realisierte, dass wir immer noch unterwegs waren! Wer springt morgens um 4 oder 5 Uhr über den Gletscher? Normalerweise nur Bergsteiger, die umdrehen. Oder eben solche, die zu faul sind das Camping Equipment fünf Stunden durch die Gegend zu tragen.
Was es um 9 Uhr zum Frühstück gab? Bier und Pizza! Ein Hochgenuss!

Text: Michael Wohlleben

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