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JAN MERSCH

Trifft man ihn in seinem Haus im Chiemgau, wirkt Jan Mersch wie in einem perfekt komponierten Gemälde. Jan ist Bergführer und diplomierter Psychologe, arbeitet als Alpingutachter und hält Vorträge, er berät über Entscheidungsfindung in Drucksituationen, über Risikomanagement und Motivation – am Berg wie im Beruf. Die Mischung aus Energie und Ruhe, Komplexität und Reduktion, Vielschichtigkeit und Gradlinigkeit, die Jan ausstrahlt, findet ihr Spiegelbild in dem rund 700 Jahre alten Haus, das Jan und seine Frau Angela mühe- wie liebevoll von den Grundmauern auf restauriert haben.
 
Liebe auf den ersten Blick sei dieses Haus gewesen, beim Kauf baufällig und mit völlig maroder Substanz. Alle hätten die kleine Familie für verrückt erklärt, erzählt Jan, aber sie haben durchgehalten und sich damit einen Traum erfüllt. Der Stolz darauf ist ihm anzumerken.
 

 
Angela ist Innenarchitektin, sie entwarf die Pläne und Jan durfte sie gemeinsam mit Freunden ausführen. Kein Mobilfunknetz stört die Ruhe hier auf der Ratzinger Höhe, W-LAN gibt es erst seit einem halben Jahr. Die Katze läuft durchs Haus, der Espresso schmeckt genauso gut wie er seinen Duft von der Küche durch die alten Gemäuer zum Tisch verbreitet. Nur über das Festnetz kann man telefonieren. Trotzdem klingelt immer wieder das Telefon. Die Kombination aus Bergführer und Psychologe scheint gefragt zu sein.
 

 
Zusammen mit Pauli Trenkwalder ist Jan „Mensch und Berge“. Beide sind ausgebildete Psychologen und Bergführer und bieten Beratung und Coaching für Einzelpersonen oder Unternehmen an – einzeln oder gemeinsam. Liest man auf ihrer Internetseite ihr Selbstportrait, fragt man sich zwangsläufig warum die Kombination aus Berg und Beratung nicht häufiger ist, so schlüssig sind die Bilder, so treffend die Analogien. Daneben ist Jan bei „Erlebnis Berg“ als Bergführer aktiv.
 

 
Ein Dualismus, der Jan lange begleitet. Im Zivildienst hat er einen querschnittsgelähmten Psychologie-Studenten betreut und nach dem Umweg Vordiplom in Physik dann das Studium der Psychologie begonnen. Bergführer ist Jan zu diesem Zeitpunkt bereits, nicht weil das sein großer Lebensplan war, sondern weil es sich so ergeben hat, die Spezln dasselbe machten, die Bergführerei im Traunsteiner Bergsteigerkreis einfach „zum guten Ton gehörte“.
 
Die wilden Jahre
 
Überhaupt, die Spezln. Mit 15 kommt Jan zum Klettern. Bevor er mit 21 die Bergführerausbildung abschließt, hat er schon einige, teils wilde Jahre hinter sich. „Teilweise haben wir mehr überlebt als sonst was“, erinnert sich Jan. Während die Eltern dachten, er sei sicher und organisiert mit dem Alpenverein unterwegs, fuhr er mit Freunden aus der Jungmannschaft in der Gegend herum, immer mit dem Ziel, in die Vertikalen zu steigen und immer mit einer Geisteshaltung, die Jan heute „klassischen Alpinismus“ nennt: Viele Höhenmeter in vielen Stunden mit altmodischen Hauen, allein und reduziert auf ihre eigene Technik und die Neugier und Motivation, weiterzukommen und etwas zu entdecken. Mit einem guten Gleichgewichtsgefühl und dem in den Hausbergen entwickelten Selbstbewusstsein.
 
Noch als halb-erfahrene junge Burschen sind sie einmal direkt nach Chamonix auf den Frendo-Pfeiler an der Aiguille du Midi. Eine gemischte Route in Fels und Eis in einem schönen Massiv. Der Pfeiler ist 1.200 Meter hoch, die Zusammensetzung des Eises, die Ausgesetztheit des Grates, die steilen Kletterpassagen, das spröde Eis, all das macht die Tour anspruchsvoll: ein beherztes Klettern, damals noch viel mehr als heute. Und das haben Jan und seine Freunde einfach gemacht, ohne vorher einen Meter Granit geklettert zu haben, ohne nur eine normale Eis- oder Hochtour gemacht zu haben. Rückblickend hätten sie damals schon eine anständige Portion Glück gehabt, sagt Jan heute.
 

 
Ein Grund, warum er damals Bergführer werden wollte, erinnert sich Jan, sei auch gewesen, weil es ihm ermöglicht habe, an Orte zu kommen, an denen er noch nie war. Heute mit vielen Jahren Abstand ist das anders geworden. Im Mittelpunkt steht der Kunde, bei der Bergführerei wie der Psychologie: sein Ziel, sein Bedürfnis. „Am Ende ist es eine Dienstleistung“, sagt Jan – und man möchte fast hinzudenken „und das ist auch gut so“, so nüchtern und im Sinne des Wortes professionell spricht er darüber. Bergführer zu sein heißt für Jan eben auch, sich und seine eigenen Ziele zurückzunehmen.
 
Extrem professionell aber nie Profi
 
Dabei hätte es auch gut anders kommen können. Ende der Neunziger Jahre steht Jan „auf der Kippe“ zum professionellen Alpinisten, einem der von seinen Begehungen leben kann, wie er sagt. 1997 klettern Jan und Jochen Haase den Südpfeiler des Ogre, scheitern aber nach fulminantem Start aufgrund des dramatischen Wetters mit Gewitter und Blitzschlag vor dem Gipfel. Es wäre die zweite Begehung überhaupt des „Menschenfressers“ im Karakorum gewesen. 1999 kehrt er mit Alexander und Thomas Huber und Toni Gutsch zurück nach Pakistan für einen nächsten Versuch am Ogre. Wieder scheitern sie am Wetter: „Das wär‘ schon der Burner gewesen, wenn wir vier den Ogre gemacht hätten!“, sagt Jan heute.
 


Ebenfalls mit Toni durchsteigt er 1998 das Colton Macintyre in der Nordwand der Grand Jorasses. Auch seine vielleicht gefährlichste Situation am Berg erlebt Jan mit Toni Gutsch, über den er sagt „mit dem Mitterer Hans der beste unbekannte deutsche Alpinist. Der hat schon alles gemacht.“ Neben dem Gervasutti-Pfeiler des Mont Blanc du Tacul, in einem Couloir in einer britischen Neutour, bei minus zwanzig Grad, Sturm und Neuschnee, zu kalt, zu wenig Eis, keine Möglichkeit zum Abseilen, nur Durchkommen, und dann beim Abstieg bricht sich Toni die Rippen. Hört man Jan fast zwei Jahrzehnte später davon erzählen, bekommt man einen Eindruck von der immensen Erfahrung, die er am Berg gesammelt hat, so sachlich blickt er auf die dramatischen Stunden zurück.


 
Dieser analytische Zugang spiegelt sich auch in seiner systematischen Beschäftigung mit dem Thema Lawinengefahr und Risikoabschätzung am Berg. Jan Mersch erweitert 1997 Werner Munters 3 x 3 Reduktionsmethode um eine dritte Dimension und einen weiteren Faktorencheck, ist 1999/2000 Co-Autor der Snowcard, die bis heute zentrales Instrument der Tourenplanung und Risikoabschätzung gemäß DAV ist.
 
Trotz dieser Leistungen, sich allein von seinen Expeditionen und Erfolgen finanzieren konnte Jan nicht. „Ich habe immer mehrere Sponsoren und Partner für meine Ausrüstung gehabt aber nie den einen Vertrag, von dem ich leben konnte“. Das mag auch daran liegen, dass er nur ein sehr zurückhaltender Selbstvermarkter ist.
 
„Es ist nie darum gegangen, dass ich zu einem Hersteller geh und sag‘, »Ich bin der Herr Mersch, und ich bin einer der schönsten und besten Alpinisten Deutschlands und ich möchte jetzt von Euch einen Sponsoringvertrag über 50.000 Mark«“.
 
Auch in der kurzen Zeit, als er davon träumte „ein berühmter Bergsteiger zu werden“, wie er heute mit einem selbstironischen Schmunzeln in der Stimme sagt, reichten große alpinistische Fähigkeiten allein nicht aus, um dieses Ziel zu erreichen. Schnell wird ihm allerdings auch klar, dass er spätestens mit der zweiten Expedition zum Ogre eine innere Schraube „überdraht“ hat. Er ist Vater, will Zeit mit den Kindern verbringen und entdeckt, dass andere Dinge wichtiger sind.
 
Stattdessen macht Jan seine Erfahrung und seine analytischen Fähigkeiten für andere nutzbar. Ab 2000 ist er Trainer im renommierten Exped-Kader des DAV. Gemeinsam mit Alexander Huber und Sigi Hupfauer konzipiert er die Jungalpinismus-Förderung, ist insgesamt sechs Jahre als verantwortlicher Bergführer und Coach mit dem Exped-Kader in der ganzen Welt unterwegs. Der Fokus lag dabei hauptsächlich auf der Ausbildung der jungen Athleten. Mit der Zeit entwickelte sich aber auch immer stärker die Förderung eines individuellen, eigenverantwortlichen Alpinismus‘.
 

 
Obwohl auch teils schwere Unfälle seiner Schützlinge am Ende immer glimpflich ausgegangen sind, beschreibt Jan aus heutiger Sicht die moralische Verantwortung des Kadertrainers als grenzwertig. Er gibt den jungen Sportlern das Handwerkszeug, das sie für eine vernünftige Risikoeinschätzung brauchen, er versucht ihnen zu vermitteln, dass der Weg das Ziel sei und noch wichtiger, gemeinsam heil zurückzukommen und ist trotzdem in dem Dilemma, die jungen Menschen in einen „brutalen Leistungsalpinismus“ zu treiben.
 
„Ich habe fünf Jahre lang zugesehen, wie die jungen Leute versuchen, sich umzubringen.“
 
Vom Bergsteiger als Künstler zum bergsteigenden Familienmenschen
 
Jans eigene Einstellung zum Berg ist dabei viel mehr vom Wunsch nach einer ästhetischen Linie geprägt, als vom Ziel »Gipfelsieg« an »Gipfelsieg« zu reihen. Der polnische Spitzenbergsteiger Wojciech Kurtyka habe einmal im legendären Alpinist Magazine (Jan hatte natürlich ein Abo) beschrieben, wie er seine Begehungen, seinen Alpinismus als eine Ausdrucksform seines Seins als Künstler begreife, am Ende mehr als kreative denn als sportliche Leitung. Diese Idee, das Bergsteigen nicht primär als sportliche Herausforderung zu sehen, sondern auch als kreative Auseinandersetzung mit dem Möglichen hat ihn beeinflusst. Auch den britischen Alpinismus der Neunziger- und Nullerjahre nennt Jan als Inspiration. „Es war schon immer so, dass mich die Gestalt oder die Form (einer Route) sehr stark angezogen hat. Das ist auch heute noch beim Klettern so.“
 
Auch Reinhold Messner ist ein Vorbild für Jan. Vielleicht sogar weniger wegen seiner alpinistischen Leistungen, sondern wegen der Art, wie er darüber geschrieben hat, wie er „eine Seelenschau gemacht hat“. Und natürlich Reinhard Karl, „den haben wir schon rauf- und runtergebetet. Der hat uns schon sehr beeinflusst.“
 
Heute sind die Ziele aber andere geworden. Fast bedauert Jan, dass sein Tag nicht 48 Stunden habe. Er sei schon viel unterwegs, sagt Jan und seinem Job, den Kühlschrank zu füllen, komme er nicht immer nach. Ein Geheimnis seines glücklichen Familienlebens sei, dass seine Frau ihn nicht unbedingt brauche für ihr Glück. Die Freude ist groß, wenn man zusammen ist, doch so lassen sich auch Phasen mit weniger gemeinsamer Zeit überstehen.
 
Zwei- oder dreimal im Jahr schätzt er, geht er noch mit einem eigenen alpinistischen Projekt in die Berge. Kurze intensive Momente sind wichtiger geworden, für einen Vater dreier Kinder, dessen Beruf auch Leidenschaft ist und dadurch zeitintensiv. Sein Ausgleich sind kurze Touren mit der Tochter, in denen die Gemeinsamkeit sicher so wichtig ist, wie die Begehung; das Reiten mit seiner Frau, oder spontane Winter-Ausfluge zum Powdern an die benachbarte Kampenwand.
 

 
Von einem fast-Profi-Bergsteiger ist Jan Mersch zu einem professionellen Vermittler zwischen Mensch und Berg geworden. Als Bergführer und als verhaltenstherapeutischer Psychologe. Mehr als eigene Projekte zu verfolgen, ist Jan heute ein Lehrer und Begleiter. Das Bewerten von Risiko, das Treffen von richtigen Entscheidungen und das Umsetzen dieser Entscheidung, im Leben wie am Berg, ist seit einem Vierteljahrhundert sein Thema. Ein Buch über gutes Führen würde er gern schreiben, wenn er die Zeit hat. Wann?
 
„I hab scho‘ Energie. Aber i hab ned so unbegrenzt Energie. I kann au ganz guad a faule Sau sein. Und i brauch das a. I brauch das a, dass i blöd schaun kann.“
 
Unser Scarpa-Team besteht aus einer Menge erfahrener und junger Weltklasse-Athleten, die viel zu erzählen haben. Mit den Scarpa-Stories nehmen wir uns Zeit, in Ruhe zuzuhören.
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